Die Abgabe der Einkommensteuererklärung bei einem unzuständigen
Finanzamt kann die sog. Anlaufhemmung beenden und damit den Beginn der
Festsetzungsfrist auslösen, wenn das unzuständige Finanzamt seine
Unzuständigkeit erkennt, aber weder die Erklärung an das zuständige Finanzamt
weiterleitet noch den Steuerpflichtigen darauf hinweist, dass er die
Einkommensteuererklärung dem zuständigen Finanzamt zusenden muss.
Hintergrund: Die
Festsetzungsfrist beträgt grundsätzlich vier Jahre. Ist eine Steuererklärung
einzureichen, beginnt die Verjährungsfrist erst mit dem Ablauf des Jahres, in
dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens aber mit Ablauf des
dritten Jahres (sog. Anlaufhemmung). Wird also im Jahr 2022 die
Einkommensteuererklärung für 2021 eingereicht, beginnt die vierjährige
Verjährungsfrist für 2021 mit Ablauf des 31.12.2022 und endet mit Ablauf des
31.12.2026.
Streitfall: Der Kläger war
Nachlassverwalter des verstorbenen M und musste die Steuererklärungen für M
erstellen. M wurde bis zu seinem Tod im Zuständigkeitsbereich des Finanzamts A
einkommensteuerlich geführt. Für die gesonderte Feststellung seiner
freiberuflichen Einkünfte war jedoch das Finanzamt H zuständig, da M in dessen
Zuständigkeitsbereich als Architekt tätig gewesen war. Das Finanzamt A erließ
am 7.4.2011 einen Einkommensteuerbescheid für 2010 und schätzte mangels Abgabe
der Einkommensteuererklärung die Besteuerungsgrundlagen auf 0 €. Im
Oktober 2011 reichte der Steuerberater des M die Einkommensteuererklärung für
2010 beim unzuständigen Finanzamt H ein. Das Finanzamt H leitete die
Einkommensteuererklärung für 2010 nicht an das zuständige Finanzamt A weiter,
sondern erließ am 2.3.2012 einen Bescheid über die gesonderte Feststellung und
stellte die Einkünfte entsprechend den Angaben in der Einkommensteuererklärung
in Höhe von ca. 975.000 € fest. Zugleich schickte es eine entsprechende
Mitteilung an das zuständige Finanzamt A über die Höhe der festgestellten
Einkünfte. Auf dieser Grundlage erließ das Finanzamt H am 6.10.2016 einen
Einkommensteuerbescheid und legte freiberufliche Einkünfte in Höhe von 975.000
€ zugrunde.
Entscheidung: Der
Bundesfinanzhof (BFH) hob den Einkommensteuerbescheid vom 6.10.2016 auf und gab
der Klage statt:
-
Der Einkommensteuerbescheid vom 6.10.2016 ist nach Eintritt
der Festsetzungsverjährung ergangen und war daher aufzuheben. -
Die vierjährige Festsetzungsfrist für 2010 begann mit Ablauf
des 31.12.2011, da die Einkommensteuererklärung für 2010 im Jahr 2011 abgegeben
worden ist. Die Festsetzungsfrist lief daher nach vier Jahren mit Ablauf des
31.12.2015 ab, so dass am 6.10.2016 bereits Festsetzungsverjährung eingetreten
war. -
Die Festsetzungsfrist beginnt grundsätzlich erst nach Abgabe
der Einkommensteuererklärung beim zuständigen Finanzamt. Anderenfalls würde die
Festsetzungsfrist beginnen, bevor das für die Steuerfestsetzung zuständige
Finanzamt etwas vom Entstehen und der Höhe des Steueranspruchs erfahren hat. -
Das zuständige Finanzamt wäre das Finanzamt A gewesen; die
Steuererklärung wurde aber beim Finanzamt H abgegeben, das nur für die
gesonderte Feststellung der Einkünfte zuständig war, nicht jedoch für die
Einkommensteuer. -
Ausnahmsweise genügt für
die Beendigung der Anlaufhemmung und damit für den Beginn der Festsetzungsfrist
aber auch die Abgabe der Steuererklärung bei einem unzuständigen Finanzamt,
wenn dieses trotz Kenntnis seiner Unzuständigkeit die Steuererklärung zu den
Akten nimmt, anstatt die Erklärung an das zuständige Finanzamt weiterzuleiten
oder den Steuerpflichtigen darüber zu informieren, dass es die Steuererklärung
nicht an das zuständige Finanzamt weiterleitet. -
Der Kläger ist damit so zu stellen, als ob der Verstoß nicht
erfolgt wäre. Bei einer ordnungsgemäßen Handhabung wäre die
Einkommensteuererklärung noch im Oktober 2011 an das Finanzamt A weitergeleitet
worden, so dass mit Ablauf des 31.12.2011 die vierjährige Festsetzungsfrist
begonnen hätte.
Hinweise: Das Finanzamt A war
nicht so langsam mit der Steuerfestsetzung, wie es scheint. Es hatte durchaus
schon vor dem Jahr 2016 versucht, die Einkommensteuer für 2010 gegenüber dem
Kläger festzusetzen; jedoch war die Bekanntgabe nicht wirksam erfolgt,
möglicherweise auch wegen der verfahrensrechtlichen Komplikationen aufgrund des
Todes des M.
Dem Finanzamt A half es auch nicht, dass es beim Erlass eines
Feststellungsbescheids eine sog. Ablaufhemmung gibt. Denn diese Ablaufhemmung
beträgt nur zwei Jahre, und der Feststellungsbescheid war vom Finanzamt H am
2.3.2012 bekanntgegeben worden. Eine Ablaufhemmung bis zum 6.10.2016 trat also
nicht ein.
Die aktuelle Entscheidung betrifft einen Ausnahmefall, weil das
Finanzamt H seine Fürsorgepflicht verletzt
hat. Der BFH hält im Übrigen an seinem Grundsatz fest, dass eine
Steuererklärung beim zuständigen Finanzamt abgegeben werden muss, damit die
Anlaufhemmung beendet werden kann und die Festsetzungsfrist beginnt.
BFH, Urteil vom 14.12.2021 – VIII R 31/19;
NWB