Ein Antrag auf Günstigerprüfung
kann erstmals im Einspruchsverfahren gegen einen geänderten
Einkommensteuerbescheid, der zu einer niedrigeren Steuer führt, gestellt
werden, wenn erstmals der geänderte Bescheid Anlass für den Antrag auf
Günstigerprüfung gibt. Die Festsetzung der niedrigeren Steuer in dem geänderten
Bescheid ist ein rückwirkendes Ereignis, das dazu führt, dass es keine
Beschränkung der Anfechtungsbefugnis gibt.
Hintergrund:
Kapitaleinkünfte unterliegen grundsätzlich der Abgeltungsteuer in Höhe von 25
%. Der Steuerpflichtige kann aber einen sog. Antrag auf Günstigerprüfung
stellen. Die Kapitaleinkünfte werden dann der individuellen (tariflichen)
Einkommensteuer unterworfen, wenn dies zu einer niedrigeren Einkommensteuer
führt. Dies ist sinnvoll, wenn der Steuerpflichtige nur geringe Einkünfte
erzielt und daher der Steuersatz niedriger ist als die Abgeltungsteuer von 25
%.
Sachverhalt: Die Kläger
sind Eheleute. Der Ehemann erzielte im Streitjahr 2010 gewerbliche Einkünfte
aus einer KG in Höhe von ca. 305.000 €. Außerdem erzielten beide Kläger
Kapitaleinkünfte in Höhe von ca. 31.000 €. In ihrer
Einkommensteuererklärung beantragten sie keine Günstigerprüfung, da hierzu
angesichts der hohen gewerblichen Einkünfte kein Anlass bestand. Die
Kapitaleinkünfte unterlagen daher der Abgeltungsteuer von 25 %. Das Finanzamt
erließ einen Einkommensteuerbescheid, der bestandskräftig wurde. Im Jahr 2014
wurde der Gewinnanteil des Klägers aus der KG für 2010 mit 0 €
festgestellt. Daraufhin änderte das Finanzamt am 4.4.2014 den
Einkommensteuerbescheid für 2010 und setzte nunmehr gewerbliche Einkünfte in
Höhe von 0 € an, während die Kapitaleinkünfte unverändert blieben; die
Einkommensteuer wurde dadurch auf ca. 7.700 € herabgesetzt. Die Kläger
legten Einspruch gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid ein und
beantragten eine Günstigerprüfung für die Kapitaleinkünfte. Das Finanzamt kam
diesem Antrag nicht nach.
Entscheidung: Der
Bundesfinanzhof (BFH) gab der hiergegen gerichteten Klage statt:
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Das Recht, einen Antrag auf
Günstigerprüfung zu stellen, ist ein unbefristetes Wahlrecht und konnte daher
an sich noch im Einspruchsverfahren gegen den Änderungsbescheid vom 4.4.2014
ausgeübt werden. -
Allerdings darf der Bescheid
nicht bereits bestandskräftig sein, wenn der Antrag gestellt wird. Die
Bestandskraft tritt bei einem Einspruch zwar nicht ein. Dies gilt allerdings
nicht, wenn es sich um einen Einspruch gegen einen Änderungsbescheid handelt
und der Änderungsbescheid – wie im Streitfall – zu einer Minderung
der bereits bestandskräftigen Steuer führt. Hier besteht wegen der
Bestandskraft des Erstbescheids grundsätzlich keine Anfechtungsbefugnis (sog.
Beschränkung der Anfechtungsbefugnis). -
Nach dem Gesetz ist die
Anfechtungsbefugnis aber nicht beschränkt, wenn eine Korrekturvorschrift die
Änderung des Bescheids ermöglicht. Eine solche Korrekturmöglichkeit bestand im
Streitfall, weil der Erlass des geänderten Steuerbescheids als sog.
rückwirkendes Ereignis anzusehen und bei einem rückwirkenden Ereignis eine
Korrektur möglich ist. Der geänderte Bescheid ermöglichte den Klägern nämlich
erstmals eine erfolgreiche Antragstellung, weil infolge der auf Null
herabgesetzten gewerblichen Einkünfte ein Antrag auf Günstigerprüfung sinnvoll
wurde. Die Günstigerprüfung führte nämlich zu einer niedrigen Einkommensteuer
als die Abgeltungsteuer.
Hinweis: Das Urteil ist
für Steuerpflichtige ausgesprochen positiv. Denn es ermöglicht die Stellung
eines Antrags auf Günstigerprüfung nach Erlass eines Änderungsbescheids, wenn
sich erstmals aus dem Änderungsbescheid derart niedrige Einkünfte ergeben, dass
ein Antrag auf Günstigerprüfung sinnvoll wird. Zu beachten ist aber, dass der
Antrag innerhalb der Einspruchsfrist des Änderungsbescheids gestellt werden
muss.
Führt der Änderungsbescheid zu
einer höheren Steuer, gelten die Grundsätze des Urteils nicht. Denn dann
besteht zum einen ohnehin keine Beschränkung der Anfechtungsbefugnis; zum
anderen ergibt sich aus einer höheren Steuer auch kein Anlass für die
erstmalige Stellung eines Antrags auf Günstigerprüfung.
BFH, Urteil vom 14.7.2020 – VIII R
6/17; NWB