Die deutschen Finanzbehörden
durften aufgrund eines Beitreibungsersuchens eines anderen EU-Staates
Vollstreckungsmaßnahmen vor dem 19.3.2020 durchführen. Zwar sollen die
Finanzbehörden nach einer Anweisung des Bundesfinanzministeriums (BMF) aufgrund
der Corona-Krise von Vollstreckungsmaßnahmen absehen. Dies gilt aber nicht für
Vollstreckungsmaßnahmen, die vor dem 19.3.2020 durchgeführt worden
sind.

Hintergrund: In der EU
findet eine Vollstreckung (Beitreibung) von Steuern auch grenzüberschreitend
statt. Nach einer Anweisung des BMF vom 19.3.2020 sollen die Finanzämter wegen
der Corona-Krise von Vollstreckungsmaßnahmen bei allen rückständigen oder bis
zum 31.12.2020 fällig werdenden Steuern absehen.

Sachverhalt: Die
Antragstellerin war eine Reederei, die ihren Geschäftssitz in der EU, aber
außerhalb Deutschlands, hatte. In ihrem Ansässigkeitsstaat schuldete sie dem
dortigen Finanzamt Steuern für 2019. Ihr Ansässigkeitsstaat richtete an den
deutschen Fiskus im Januar 2020 ein sog. Beitreibungsersuchen, d.h. eine Bitte
um Vollstreckung in Deutschland. Das deutsche Finanzamt erließ am 5.2.2020 eine
Pfändungs- und Einziehungsverfügung über einen Betrag von ca. 6 Mio. €
gegen die in Deutschland ansässige Bank der Antragstellerin. Die
Antragstellerin legte gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügung Einspruch
ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Der Antrag auf Aussetzung
und Vollziehung hatte beim Finanzgericht Erfolg. Daraufhin legte das Finanzamt
beim Bundesfinanzhof (BFH) Beschwerde gegen die Entscheidung des Finanzgerichts
ein.

Entscheidung: Der BFH gab
der Beschwerde des Finanzamts statt und lehnte die Aussetzung der Vollziehung
ab:

  • Die Voraussetzungen für eine
    Vollstreckung lagen vor, da die Antragstellerin in dem anderen EU-Staat, in dem
    sie ansässig war, Steuern schuldete und der andere Staat ein
    Beitreibungsersuchen an den deutschen Fiskus gerichtet hatte.

  • Das deutsche Finanzamt war
    nicht an der Vollstreckung gehindert. Insbesondere durfte das Finanzamt trotz
    des BMF-Schreibens vom 19.3.2020 vollstrecken. Denn dieses Schreiben betrifft
    nur Vollstreckungsmaßnahmen, die ab der Veröffentlichung des Schreibens, d.h.
    ab dem 19.3.2020 durchgeführt werden, nicht aber Vollstreckungsmaßnahmen, die
    – wie im Streitfall – vor der Veröffentlichung des BMF-Schreibens
    durchgeführt worden sind.

  • Es gibt auch keinen Grund,
    Steuerschuldner zu schützen, die bereits vor der Corona-Krise und zudem
    unabhängig von der Corona-Krise mit ihren Steuern in Rückstand geraten sind.
    Die Antragstellerin war immerhin schon am 31.12.2019 überschuldet. Würde das
    Finanzamt bei der Antragstellerin nicht vollstrecken, käme dies im Ergebnis nur
    den anderen Gläubigern zugute, nicht aber der Antragstellerin.

Hinweise: Es kommt nicht
darauf an, wie der BFH das BMF-Schreiben versteht. Maßgeblich ist vielmehr, wie
die Finanzverwaltung ihr eigenes Schreiben verstanden hat und verstanden wissen
wollte.

Auch wenn sich die Antragstellerin
nicht auf das Schreiben des BMF berufen konnte, ist sie nicht rechtschutzlos.
Sie kann nämlich nach allgemeinen Grundsätzen eine Einstellung der
Vollstreckung beantragen. Dies setzt voraus, dass die Vollstreckung unbillig
ist, z.B. aufgrund der Corona-Krise.

BFH, Beschluss vom 30.7.2020 – VII
B 73/20 (AdV); NWB

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